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Koloniales Erbe und Aufbruchsstimmung – Ein Besuch in Grönlands Hauptstadt Nuuk

Die Sea Spirit legt im Hafen von Nuuk, der Hauptstadt Grönlands an, und die Gangway steht bereit. Neugierig steigen wir hinunter in den Hafen, doch noch bevor wir uns groß umschauen könnten, steht schon ein Reisebus inklusive grönländischem Guide bereit. Und er wird uns mitnehmen, auf eine kleine Reise durch Nuuk, aber auch durch die Vergangenheit.

ACHTUNG: Triggerwarnung – dies ist kein besonders schöner Feel good-Artikel. Es geht um das, was der grönländischen Bevölkerung unter dänischer Vorherrschaft angetan wurde.

Ich finde aber, dass, wenn man in ein anderes Land reist, ein Blick hinter die Fassade dazu gehört. Natürlich beobachte ich gern friedlich Tiere oder genieße schöne Orte, aber gerade heutzutage gilt es, genau hinzuschauen und dunkle Ereignisse der Vergangenheit nicht totzuschweigen. Diese gehören ebenso zu Grönland, wie die atemberaubende Natur. Wem das zu viel ist, der kann gerne beim nächsten Artikel wieder einsteigen!

Die Grönländer und der Wunsch nach Unabhängigkeit

Seit 1721 war Grönland dänische Kolonie und wurde im 20. Jahrhundert Teil des dänischen Reichs. In den 1950er Jahren fand eine sogenannte Dekolonialisierung statt, was zunächst bedeutete, dass die Grönländer überhaupt wieder Zugang zur restlichen Welt erhielten, nachdem sie lange von den Dänen abgeschottet wurden. Doch auch danach hat Dänemark die Grönländer bevormundet und teilweise sogar misshandelt. Zudem werden auch heute noch viele wichtige Entscheidungen, die Grönland betreffen, nicht von den Grönländern selbst, sondern von den Dänen getroffen werden.

Nuuk als Hauptstadt

Eine davon war, Nuuk (früher Godthåb) im Jahr 1950 zur Hauptstadt zu machen. Als unser Guide uns herumführt meint er nur trocken: „Wir hätten uns diesen Ort niemals als Hauptstadt ausgesucht, Nuuk ist nicht mehr als eine dänische Kolonie. Aber nun müssen wir das Beste draus machen.“ Mittlerweile hat Nuuk etwa 20.000 Einwohner. Bei ca. 56.000 Grönländern insgesamt, lebt hier also mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Insel. Hier findet sich auch die einzige Universität des Landes, an der etwa 500 Studierende eingeschrieben sind.

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Universitätsgebäude

Die Urbanisierung ist in Nuuk deutlich zu spüren, gerade im Vergleich zu winzigen Orten wie Narsaq, Qassiarsuk oder Paamiut. Hier gibt es jede Menge asphaltierte Straßen, öffentliche Verkehrsmittel und Gebäudekomplexe, nicht nur einzelner bunter Häuser und Schotterwege. Und überall wird gebaut. Die Grönländer halten Schritt, wie unser Guide stolz erklärt. Und sie haben keine Probleme damit, Neuerungen zu adaptieren und sich daran zu gewöhnen, seien es Handys oder Internet.

Groenland-Nuuk-Kolonialgeschichte-Hauptstadt

Öffnung Grönlands als Ziel der Grönländer

Der Flughafen in Nuuk unterhält bisher nur Verbindungen nach Dänemark und Island, doch er wird gerade ausgebaut und die Grönländer wollen den Flugverkehr unbedingt auch von und nach Nordamerika ermöglichen. Die Dänen sehen das natürlich nicht so gerne, aber zumindest unserem Guide ist das ziemlich egal. Er brennt für die Unabhängigkeit und Autonomisierung seines Heimatlandes.

So berichtet er uns, dass in den letzten Monaten der Entwurf für eine eigene Verfassung fertiggestellt wurde, an dem die Grönländer insgesamt sieben Jahre gearbeitet haben. Denn die grönländische Repräsentation im dänischen Parlament ist ein Witz: 2 von 200 Sitzen. Das reicht den Grönländern nicht und die eigene Verfassung könnte ein weiterer Schritt auf dem langen Weg aus Dänemarks Einflussbereich sein.

Nach wie vor ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig in Grönland der Fischfang, doch auch der Tourismus gewinnt immer mehr an Bedeutung. Dieses Jahr werden etwa 700 Kreuzfahrtschiffe in Nuuk erwartete, aber eine Flugverbindung nach Westen würde die Zahl der Besucher noch deutlich erhöhen. Und die Grönländer wieder ein Stückchen unabhängiger machen.

Von der Vergangenheit in die Zukunft

Als wir uns dem Zentrum nähern, fällt mein Auge auf ein Graffito. Es zeigt einen Ladebalken, der den vermeintlichen Fortschritt Grönlands anzeigt. Wobei Fortschritt vielleicht nicht das richtige Wort ist, eher die Veränderung. Radikale Öffnung und Neuerung sind schön und gut, aber wenn man sich dieses Wandbild anschaut, dann bekommt man ein Gefühl dafür, dass die Grönländer auch Angst haben, ihre sowieso schon verdrängte und unterdrückte Kultur noch weiter zu verlieren.

Es wird nicht einfach werden, ein modernes und zukunftsorientiertes Land zu sein und gleichzeitig eine Kultur zu bewahren, die sich nicht aus sich selbst heraus weiterentwickeln durfte. Ich bin froh, dass es in fast jedem Ort ein kleines Museum gibt. Und auch wenn manche stöhnen, dass es langweilig sei und fast immer nur die gleichen Exponate zu sehen seien, finde ich es wichtig, die Erinnerung an das Vergangene zu konservieren und zu bewahren.

Unten links das Museum im alten Kolonialhafen

Sedna statt Egede – Die Legende der Königin der Meere

Wir erreichen den alten Kolonialhafen mit der Statue von Hans Egede, dem Gründer der Siedlung, aus der Nuuk entstanden ist. Hoch auf einem Hügel thronend überblickt er herrisch und streng das Gelände. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Vandalismus und Stimmen wurden laut, dieses Denkmal des umstrittenen Missionars zu entfernen. Noch ist es nicht so weit.

Aber unten, im Hafen, dort findet man das, was Egede so verzweifelt versuchte in Grönland auszumerzen. Den Glauben an Götter und mächtige Wesenheiten. Dort, mit den schlagenden Wellen zu ihren Füßen, sitzt Sedna. In der traditionellen Überlieferung der Inuit ist sie die Mutter aller Meerestiere.

Je nach Region unterscheidet sich die Legende in ihren Details. Allgemein aber erzählt man: Sedna war eine wunderschöne junge Frau, die nicht heiraten wollte. Mal heißt es, sie wurde von ihrem Vater gezwungen einen Raben zu heiraten, mal, dass sie weggelaufen sei und gemeinsam mit Seevögeln auf einer Klippe gelebt habe.

Irgendwann hatte ihr Vater aber Mitleid, beziehungsweise, Sedna wollte nach Hause zurückkehren. So kam der Vater um sie in seinem Boot zurückzubringen. Doch sie wurden von den wütenden Vögeln angegriffen. So attackiert stieß der feige Vater Sedna über Bord um selbst zu entkommen. Und als sie sich am Bootsrand festhielt, da schlug er ihr mit dem Paddel die Finger ab.

Sedna sank auf den Meeresgrund, umhüllt von ihrem langen Haar. Und aus ihren abgeschnittenen Fingern wurden die Bewohner des Ozeans: Robben, Walrosse und Wale. Sedna wurde zur Meeresgöttin und wenn Fischer auf’s Meer hinausfahren, dann bitten sie Sedna, ihnen gnädig zu sein. Nur mit ihrem Segen kann es gelingen etwas zu fangen. Denn sie sorgt für das Gleichgewicht im Ozean. Wenn die Menschen sich schlecht benehmen und Sedna verärgern, dann schickt sie ihnen Wellen und Stürme und verwehrt ihnen, ihre Kinder zu fangen. Dann müssen die Menschen Sedna besänftigen, indem sie ihr das lange Haar kämmen.

Groenland-Nuuk-Kolonialgeschichte-Meeresgoettin-Sedna

Traurige Vergangenheit: Zwanghafte Geburtenkontrolle durch Dänemark

Wir fahren mit dem Bus zu einem kleinen Friedhof direkt an der Küste. Auf Halbmast flattert die grönländische Fahne im Wind. Auch hier haben sich die Grönländer bewusst gegen das so gängige Philippuskreuz oder auch skandinavische Kreuz entschieden, das die Flaggen von Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen und Island ziert.

Die grönländische Flagge ist horizontal zweigeteilt und zeigt einen geteilten rot-weißen Kreis auf weiß-rotem Grund. Es gibt mehrere Interpretationen der Symbolik. Eine besagt, es handele sich um die untergehende Sonne, die im Meer versinkt. Der Designer der Flagge selbst hat erklärt, der weiße Streifen repräsentiere die Gletscher, der rote Streifen den Ozean, der rote Halbkreis die Fjorde und der weiße Halbkreis die Eisberge und das Packeis. 

Als unser Guide nach dem Altersdurchschnitt in Grönland gefragt wird, erhalten wir eine traurige Antwort. Die grönländische Bevölkerung ist relativ alt mit einem hohen Anteil an über 60-Jährigen. Das liegt daran, dass die dänische Regierung von den 60ern bis in die Mitte der 70er Jahre und wohlmöglich sogar noch länger dafür gesorgt hat, dass viele der grönländischen Frauen keinen Nachwuchs bekommen konnten.

Zwangsverhütung mit Spiralen

In diesen Jahren wurden Mädchen und Frauen unwissentlich oder sogar gegen ihren Willen auf Geheiß der dänischen Regierung Spiralen eingesetzt. Sogar junge Mädchen im Alter von nur 15 Jahren sollten so daran gehindert werden, Kinder zu bekommen. Es wurde sogar extra ein vermeintlich fortschrittliches Gesetz erlassen, das den Ärzten erlaubte, junge Mädchen ohne Beisein und Wissen ihrer Eltern zu beraten und zu behandeln. Grundsätzlich eine gute und richtige Idee, die hier aber pervertiert wurde, um die eigene Agenda durchsetzen zu können.

Insgesamt waren wohl mindestens 4.500 Frauen betroffen. Bei der damaligen Bevölkerungszahl von nur 40.000 Menschen, bedeutet das, dass möglicherweise die Hälfte aller gebärfähigen Frauen (etwa 9.000) betroffen war. „Warum?“, fragt man sich entsetzt.

Groenland-Nuuk-Kolonialgeschichte-Haueser

Kostenkontrolle und Abhängigkeit

Es ging darum, die dänischen Kosten für Grönland möglichst gering zu halten. Die Geburtenrate war in den letzten Jahren enorm gestiegen, zumindest für grönländische Verhältnisse. Kindergärten, Kitas und Schulen kosteten den Staat Geld, hinzu kamen mögliche Sozialleistungen. Man wollte verhindern, dass die Frauen zu Müttern wurden und so als Arbeitskraft wegfielen. Und natürlich spielte auch das Gefühl der eigenen Überlegenheit eine Rolle, mit der derartige Verbrechen seit je her gerechtfertigt wurden. Frei nach dem Motto: Wir sind gebildeter und wissen, was das Beste ist. Schon ein paar Jahre zuvor, in den 50er Jahren, wurden grönländischen Familien ihre Kinder weggenommen und in Dänemark zur Adoption freigegeben.

Es mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben, dass man die Bevölkerungszahl gering halten wollte, um einem möglichen Kontrollverlust vorzubeugen. Viele kolonialisierte Staaten auf der ganzen Welt wurden in diesen Jahrzehnten unabhängig und Dänemark wollte seinen Anspruch wohl festigen. Schließlich ist Grönland wirtschaftlich und geografisch unter verschiedenen Aspekten sehr wichtig für Dänemark. Wie das verrückte Angebot vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, Grönland der dänischen Regierung abzukaufen, zeigt.

Der „gute“ Ruf der skandinavischen Länder

Als ich all das erfahre, wird mir schlecht. Erst kann ich es gar nicht glauben. Das liebe nette Dänemark, unser guter Nachbar, so eine dunkle Kolonialgeschichte? Die skandinavischen Länder haben heutzutage einen fantastischen Ruf und ein sehr positives Standing in Europa. Da überrascht es einen immer wieder, wenn solch dunklen und traurigen Kapitel ans Tageslicht kommen. Völlig unvorbereitet trifft es mich aber nicht, denn schon 2017 bin ich auf die Spuren der brutalen dänischen Kontrolle über Grönland gestoßen, als ich den Lost Place Qullissat besuchte.

Dieses koloniale Denken, der Missbrauch durch ein ach so westliches und zivilisiertes Land und das vielleicht noch zu meinen Lebzeiten… ich verstehe die glühende Leidenschaft, mit der unser Guide von der Unabhängigkeit Grönlands als erklärtem Ziel spricht. Und ich drücke ihm verdammt noch mal die Daumen!

Disclaimer: Ich habe die Reise an Bord der Sea Spirit bei einem Wettbewerb von Poseidon Expeditions gewonnen. Ich selbst musste also nichts für die Reise bezahlen, werde für meine Artikel aber auch nicht vom Reiseveranstalter bezahlt. Ich gebe hier meine eigene Meinung wieder.

Copyright: Alle der hier gezeigten Bilder ohne mein Logo wurden vom Bordfotograf Page Chichester aufgenommen.

4 Comments

  • Frank Kratz

    Liebe Anuschka,
    Vielen Dank für der tollen Bericht. Es ist sehr traurig wie Menschen miteinander umgehen.
    Deine Offenheit ist für die Grönländer sehr wichtig ! Viele Leser sollten von diesen widerwertigen Mißständen informiert werden. Nur so kann geholfen werden.
    Danke
    Vom Frank

    • Rosa

      Lieber Frank,
      ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil ich dir letzte Woche noch „schöne“ Geschichten versprochen habe und diese ist so gar nicht schön. Umso mehr freue ich mich, dass du den Artikel gelesen hast und er deine Zustimmung findet. Danke dir!
      Alles Liebe
      Anuschka

  • Brigitte Wallraf

    Nein, es gibt auf Grönland nicht nur die schönen Seiten. Es gibt eine grausame, koloniale Vergangenheit, die auch noch heute ihre Spuren hinterlässt. Und wenn man wie du mit offenen Augen auf Reisen geht, dann muss man sich auch mit diesen Tatsachen beschäftigen. Und ich bin froh, dass es in diesem Artikel und auch bei anderen von dir, nicht nur darum geht schöne Bilder und Geschichten von einer Reise zu veröffentlichen. Aber warum die Trigger-Warnung? Was ist an deinem Artikel eine Zumutung? Das sind Tatsachen. Und wenn einem der Artikel nicht gefällt, kann er aufhören zu lesen oder einen Kommentar schreiben. Ich persönlich möchte nie gewarnt werden etwas zu lesen, sondern selber entscheiden, ob ich mir das zumuten kann. Ich stoße hiermit vielleicht eine Diskussion an, aber mir geht diese vermeintliche Vorsicht etwas zu weit. Wie sehen das die anderen Leser?

    • Rosa

      Liebe Brigitte,

      die Antwort kommt auf Grund der Ereignisse der letzten Wochen sehr spät, aber sie kommt! 🙂 Zunächst einmal freue ich mich, dass dieser Artikel so viele Leser gefunden hat! Wenn man in den Sozialen Netzwerken unterwegs ist, bekommt man schnell den Eindruck, dass nur Feel-Good-Content und tolle Erlebnisse gerne konsumiert werden. Umso glücklicher bin ich, dass so viele Menschen auch diesen Artikel gelesen haben.

      Warum jetzt die Trigger-Warnung? Ich habe, gerade in Corona-Zeiten, wo viele Menschen psychisch gelitten haben, die Erfahrung gemacht : Es gibt Tage, da kann man einfach nicht mehr und da können einenen traurige Nachrichten aus der Bahn werfen und depressive Gedanken oder Gefühle noch verstärken. Im Internet stolpert man manchmal einfach in solche Inhalte herein und ist diesen dann unvorbereitet ausgesetzt. Das kann schmerzhaft sein und manchmal den guten Gedanken, der hinter solchen Artikeln steckt, nämlich aufklären und informieren zu wollen,verfehlen.

      Ich gebe zu, meine Trigger-Warnung hier ist nicht gut formuliert und müsste präziser ansprechen, um was es geht. So könnten beispielsweise Menschen, die ähnlich schlimme Erfahrungen gemacht werden, und die durch solche Texte an ihr Trauma erinnert werden, besser abschätzen, ob sie den Artikel lesen möchten. Ich lasse den Artikel jetzt einfach trotzdem so wie er ist, damit das hier alles nachvollziehbar bleibt.

      Ich hoffe, ich konnte ein bisschen erklären, welcher Gedanke dahinter steckt. Hier gibt es noch weiterführene Informationen: https://medienkompass.de/triggerwarnungen-einsatz-erklaerung-anwendung/#:~:text=Triggerwarnungen%20warnen%20vor%20empfindlichen%20Inhalten,in%20schlimme%20Situationen%20zur%C3%BCckversetzt%20werden.

      Alles Liebe
      Anuschka

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