Grönland-Reisebericht: Lost Place Qullissat
Nach dem Frühstück bringt uns unsere Crew nach Qullissat (ausgesprochen Kuschlissatt), einer verlassenen Siedlung im Nordosten der Disko-Insel. In Grönland gibt es viele verlassene Siedlungen, was meist mit der dänischen Politk der 60er Jahre zusammenhängt. Durch das konservierende, kalte und trockene Klima der Arktis verrottet hier nur wenig und auch nach Jahren stehen die Häuser noch, als ob ihre Bewohner sie erst vor ein paar Monaten verlassen hätten. Die Arktis braucht lange, um sich von solchen Wunden zu erholen und die Spuren der Zivilisation zu tilgen.
“Lost Places” in Deutschland sind in der Regel entweder überlaufen, oder man sollte sich gut überlegen, ob man sie besucht, da das sehr teuer werden kann, wenn man erwischt wird. Sven, unser Guide, sagt nur:
“Als deutscher Reiseleiter sage ich euch natürlich, dass ihr besser nicht in die Häuser geht, das könnte gefährlich sein. Der grönländischen Mentalität entsprechend sage ich, seid nicht blöd, passt auf, wo ihr hintretet und behandelt die Häuser mit Respekt. Vielleicht kommen ihre Bewohner oder deren Nachfahren noch einmal wieder.”
Qullissat wurde 1924 gegründet und hatte den einzigen Zweck, Steinkohle abzubauen. Doch der Transport von der Mine gestaltete sich schwierig, da sich das Ufer nicht eignete, um dort einen richtigen Hafen anzulegen. So musste die Kohle erst auf kleine Boote geschafft und von dort auf ein größeres, weiter draußen ankerndes Schiff verladen werden. Dieses Spielchen rentierte sich auf Dauer nicht.
Doch nicht nur wirtschaftliche, auch machtpolitische Gründe spielten bei der Zwangsschließung eine Rolle, wahrscheinlich sogar die größere. Denn der dänischen Regierung war die ausschließlich von Grönländern bewohnte Siedlung, die sich zu einer starken Gemeinschaft entwickelte, ein Dorn im Auge. Deshalb wurde der Entschluss gefasst, diese 1972 zu räumen und Familien durch Umsiedlungen auseinanderzureißen. Einfach so, manche Einwohner kamen nach Ilulissaat, manche nach Nuuk und wer richtig Pech hatte musste nach Tasiilaq, auf die andere Seite Grönlands und war von Freunden und Verwandten durch eine 1000 km breite Eiskappe getrennt.
Wir streifen also durch das Dorf und ich bin froh, dass es hier nicht dunkel wird, dann dann wäre es wirklich unheimlich. Zum Teil sind die Häuser komplett leergeräumt, nur ein einsamer Schaukelstuhl steht noch da. In manchen findet man aber noch Spuren eines längst vergangenen Alltags. Im Krankenhaus zum Beispiel stehen noch Gitterbetten und ein alter Röntgenapparat.
Mich hat übrigens jeder ausgelacht, der erfahren hat, dass ich eine Stirnlampe dabei habe, weil doch die Sonne gar nicht untergeht. Jetzt bin ich aber froh, sie dabei zu haben, denn so kann ich in die finsteren Eiskeller klettern und mich auch dort umschauen.
Mit Sven erkunde ich die Häuser derjenigen, die wohl am meisten an der Mine verdient haben. Es sind schöne Häuser, man hat das Gefühl, hier wohnte mal das Geld. Und man müsste nur ein bisschen Hand anlegen, um alles wieder wohntauglich zu machen. Aber will man in einer Geisterstadt leben?
Irgendwann schauen wir auf die Uhr und merken, dass wir spät dran sind, eigentlich soll uns das Zodiac bereits abholen. Als wir zur Küste kommen, sehen wir es ablegen, unsere Mitreisenden lachen uns aus und winken. Pfff, denke ich mir, ich hab kein Problem hier zu bleiben. Ich hab noch längst nicht alles gesehen, was ich gerne sehen will. Als Jaron uns dann doch noch holen kommt fragt Sven auch nur: “Wieso hast du uns kein Gewehr mitgebracht, wir wollten noch was bleiben!”
Nach dem Abendessen landen wir mit den Zodiacs auf Nussuaq (=Halbinsel, die Grönländer sind doch recht pragmatisch bei der Namensgebung) an und machen einen Abendspaziergang entlang der Küste. Dabei behalten wir natürlich immer das Meer im Auge, es könnten ja Wale auftauchen. Auf einmal entdeckt jemand ein Zodiac auf dem Wasser, das schnell als eines der unsrigen identifiziert wird. Aber was macht es da? Das fragen wir uns alle. Da bemerke ich etwas, dass mir den Mund offenstehen lässt. Da ist jemand auf dem Eisberg.
Um mein Erstaunen zu verstehen müsst ihr wissen, dass Eisberge wahnsinnig gefährlich sind. Sie können jederzeit und ohne Vorwarnung auseinander brechen oder rollen. Bekanntlich sind ja nur 10% des Eises über der Oberfläche und man hat keine Ahnung, was der arktische Ozean mit der Unterseite anstellt. Zudem können um den Eisberg herum Strömungen entstehen, die dich unter das Eis ziehen. Und dann ist es ziemlich schnell vorbei. Also ist es immer eine gute Vorgehensweise, Eisbergen nicht zu nahe zu kommen. Dachten wir.
Elke, unsere Expeditionsleiterin, schaut grimmig durch ihr Fernglas und erklärt, dass das wohl schon öfter vorgekommen ist. Ich will gerade fragen was, als ich sehe, dass eine der winzigen Figuren auf dem Eisberg Anlauf nimmt, den Berg runterrutscht und ins Wasser fällt. Kurz danach taucht sie auf und beginnt zum Zodiac zu schwimmen.
Die Jungs von der Crew machen einen Ausflug. Einen arktischen Ausflug. Dazu trägt man natürlich Survival Suits, Neopren-Trockenanzüge, mit denen man eine Zeit in dem eiskalten Wasser überleben kann.Wenn man in der Arktis ist und jeden Tag 16 Stunden auf einem Schiff arbeitet, hat man sich ein bisschen Spaß verdient, oder? Und hier oben muss man halt gucken, wo man den herbekommt.
Mein Verstand gibt Elke recht, die sich über die Leichtsinnigkeit ärgert. Wenn die draufgehen, haben wir echt ein Problem. Aber meistens kann ich meinen Verstand ja recht gut ignorieren und stattdessen das Spielkind rauslassen und das schreit innerlich: ICH WILL AUCH!
Was bisher geschah:
Ankunft in Ilulissat // Der Eisfjord und die MS Cape Race // Auf Qeqertarsuaq // Die Tundra und das Inuksuk
Wie es weitergeht:
Die Arktis ist mein Spielplatz // Der Eqi-Gletscher und mein Bad im Polarmeer // Stupid, reckless things // You’re now leaving the Arctic – come back soon!