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Roadtrip Kanada & Alaska: Der MacKenzie River und mein Leben als Inuitjägerin

Der Tag beginnt kalt und regnerisch. Nach dem strahlenden Sonnenschein gestern wirkt Inuvik heute grau und abweisend. Genau das richtige Wetter also, um einen Bootsausflug zu machen. Und zwar auf dem riesigen MacKenzie River!

Gerry, den wir bereits vom Vortag kennen, packt uns in seinen Pick Up und wir rollen durch die wenigen Straßen der Stadt zur Rampe am Fluss, wo ein kleines Boot in den trüben Fluten schaukelt. Während wir alle mehr oder weniger erfolgreich versuchen, uns die Rettungswesten anzuziehen, fällt mein Blick auf ein in eine Nische gestopftes Kleidungsstück. Wie der Jagdparka von John gestern, zieht auch dieses mich wie hypnotisch an. Es ist aus Seehundfell.

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Eigentlich mag ich kein echtes Fell. Es bereitet mir Unbehagen, die Vorstellung, dass es sich dabei mal um ein lebendiges Wesen mit Gefühlen und Bedürfnissen gehandelt hat, das sterben musste, weil ein Mensch es so wollte. Und nicht, weil seine Zeit gekommen war. Unerträglich ist es, wenn ein Tier nur aus dem Grund umgebracht wird, um seine Haut als Verzierung zu nutzen.

Und dennoch stehe ich hier an Bord dieser winzigen Nusschale und kann nicht anders, als meine Hand auszustrecken und über den seidigen Pelz zu fahren. Hier oben in der Arktis ist einiges anders. Vielleicht bin sogar ich anders. Ich habe schon öfter gemerkt, dass mir hier oben Dinge nichts ausmachen, die mich zu Hause stören würden. Damit meine ich aber nicht Tierquälerei aus Profitgier.

Aber ich meine, dass ich es akzeptieren kann, dass es hier eine andere, mir fremde Kultur gibt, von der die Jagd ein wichtiger Bestandteil ist. Man gibt sich Mühe, möglichst alle Bestandteile der Beute zu verwerten: Blase, Sehnen, Knochen, Zähne, Fleisch und Fell. In der Arktis kann man sich den Luxus der Verschwendung schlicht nicht leisten. Vor allem Lebensmittel sind extrem teuer und ich frage mich nicht zum ersten mal, wie viele Jobs man hier haben muss, um über die Runden zu kommen.

Gerry reißt mich aus meinen Gedanken, in dem er den Motor anlässt und ablegt. Wir fahren nur wenige Meter, denn auf der anderen Seite des Flusses wartet einer der Könige des Nordens auf uns: Ein Weißkopfseeadler! Wir dümpeln träge auf dem Fluss, der Adler sitzt still auf seinem Ast. Und dann beginnt Gerry zu erzählen.

Er ist halb Inuvialuit und halb Gwich’in und hier, im Delta des MacKenzie, aufgewachsen. Der Fluss bestimmt sein Leben. Als Junge zog er im Winter mit seinem eigenen Hundegespann über den gefrorenen Fluss um seinem Vater bei der Jagd zu helfen, um die Familie zu ernähren. In den 50er Jahren drohte Aklavik, die bis dahin größte Siedlung der Region, in den Fluss zu rutschen, weshalb sie aufgegeben und stattdessen Inuvik gegründet wurde.

Um Inuvik wirtschaftlich zu stärken, versuchte die kanadische Regierung Rentiere und samische Hirten aus Russland anzuwerben. Doch statt der geplanten 18 Monate brauchten die Herden 5 Jahre, bis sie den langen Weg bewältigt hatten. Und als sie in Inuvik eintrafen, beschlossen die Rentiere, dass es ihnen dort nicht gefällt und zogen weiter. An einen Ort, der heute Reindeer Station heißt.

Für die Samen war es ein großes Abenteuer, für das sie entlohnt wurden, so dass sich in Russland viele Frewillige finden ließen. Bedingung der Regierung war allerdings, dass die Hirten bereits verheiratet waren und ihre Frauen mit auf die Reise gingen, um die Männer bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Am letzten Tag der Anwerbung soll ein junger, unverheirateter Mann sich mit seiner Herde beworben haben und abgelehnt worden sein. Nach der Mittagspause kam er wieder. Verheiratet. Und brach dann nach Kanada auf.

Ich muss grinsen, als ich mir den Antrag vorstelle: “Du, hör mal, ich mag dich echt gern. Hättest du nicht Lust mit mir und meinen Rentieren tausende Kilometer zu Fuß durch Alaska und Kanada zu wandern? So etwa anderthalb Jahre? Ja? Super, dann müssten wir jetzt nur noch fix zum Standesamt. Pack die Puschen ein, morgen geht’s los!”

Trotz derartigem Enthusiasmus brachte die ganze Aktion nicht den gewünschten Erfolg. Gerry erklärt es uns so, dass die Inuit das Teilen einfach zu sehr verinnerlicht haben. In rauen klimatischen Bedingungen, wie sie hier nun einmal herrschen, ist jeder auf den anderen angewiesen und man hilft sich. Daher verschenkten die Inuit mehr Rentierfleisch, als sie verkauften.

Nun erfahre ich auch, wie man finanziell hier oben überleben kann. Gerry hat 25 Jahre als Polizist für die Royal Canadian Mounted Police gearbeitet und dann noch einmal 16 Jahre für die kanadischen Nationalparks. Jetzt arbeitet er für Tundra North Tours und ein Rentnerdasein ist nicht in Sicht. Jobtechnisch ist es ihm gelungen, sich an die Veränderungen, die die Arktis und die in ihr lebenden Volksgruppen heimsuchen, anzupassen. Trotzdem hat er gewisse Traditionen bewahrt, wie eben die Jagd.

Er zieht den Seehundparka aus der Nische und zeigt ihn uns. Seine Frau hat ihn genäht. In einer Kiste unter der Bank finden sich auch noch Kamiks (Stiefel) aus Karibuhaut und Fäustlinge aus Wolfsfell. Lächelnd reicht er mir die Sachen: “Zieh sie an, wenn dir kalt ist. Es gibt nichts, was besser wärmt!” Tatsächlich ist es auf dem Fluss kalt, aber auch wenn mir warm wäre, hätte ich das Angebot wohl angenommen. Was anderen der Designerdress ist, ist mir anscheinend ein Fellparka. Ich fühle mich wie eine Inuitprinzessin. Oder eigentlich eher wie eine Jägerin.

Mittlerweile sind wir weit auf dem Fluss gefahren, aber die Landschaft berührt mich nicht halb so sehr, wie Gerrys Erzählungen. Vom Fluss aus ist nicht viel zu sehen und das Wetter ist auch nicht das beste. Trotzdem treten wir aus der kleinen Kabine auf das noch kleinere Deck und Gerry erzählt uns, wie er mit seinem Cousin John, den ich am Vortag kennengelernt habe, auf Waljagd war. Sie haben Belugas gejagt. Er zeigt mir die Harpune, die er dafür benutzt. Die dient heutzutage aber nur noch dazu, den Wal zu markieren. Getötet wird er mit einem Gewehr, das geht schneller und erspart dem Tier hoffentlich einige Schmerzen.

Wieder kämpft es in mir. Ich liebe Tiere. Ich möchte niemals einem Tier weh tun. Und doch stehe ich hier, gehüllt in Pelze toter Tiere mit einer Harpune in der Hand und stelle mir vor, wie es wäre in einem Umiak, einer Art Kanu, auf die Jagd zu paddeln. Ich stelle mir die Geräusche vor, die Gerüche, das Salz auf den Lippen, den Trommelschlag meines Herzens. Ich bin fasziniert, angezogen, neugierig. Aber dann stelle ich mir einen Blick in das Auge eines weißen Wals vor, von der Harpune getroffen, eingekesselt. Und dann knallt ein Schuss.

Nein. Ich bin wohl keine Inuitjägerin. Nicht mal konsequent in Gedanken. Trotzdem stelle ich mir die ganze Rückfahrt über vor, wie ein Leben hier wohl wäre. Am Rand der Welt. Wie ich mit einem Ulu, einem Messer, Schneeblöcke für ein Iglu schneide, während um mich herum Amarok (Wolf), Aklak (Grizzly), Nanuk (Eisbär), Mukluk (Bartrobbe) und Aivik (Walross) herumstreifen. Ohne, dass ich sie töten müsste.

Meine Tante kann wohl Gedanken lesen: “Gerry, hast du vielleicht noch ein paar unverheiratete Söhne? Wir hätten hier eine willige Kandidatin.” Ich verkrieche mich in der Seehundfellkapuze, die nach Lagerfeuer riecht, und lächele.

2 Comments

  • DieReiseEule

    Super spannend. Mir ging es in Grönland so, wo die Inuit ebenso agieren und da kann ich es nachvollziehen und akzeptieren, dass wärmende Kleidung aus Fell hergestellt wird.
    Die Inuit schlachten die Tiere ja nicht zu Vergnügen, sondern zum Überleben.

    Die Kleidung steht dir übrigens sehr gut. Die Stiefel sehen klasse aus.

    LG Liane

    • Rosa

      Liebe Liane,
      danke für deinen lieben Kommentar! Ich freue mich, dass du eine ähnliche Erfahrung gemacht hast und meine Einstellung teilst. Es ist so schwierig, sich da zu positionieren. Ich wünsche dir einen schönen Sonntag! 🙂
      Liebe Grüße
      Anuschka

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