Spitzbergen-Umrundung: Spjutnes, Walrosse und Rentiere

Wir setzen Kurs auf Spjutnes. Hände hoch, wer denkt irgendwie auch an russische Raumfahrt? Spjutnes hat aber gar nix mit Sputnik zu tun, sondern heißt einfach “Speerspitze” auf Norwegisch. Und da unsere nächste Landestelle wie eine Speerspitze ins Meer hineinsticht, ist das ein sehr passender Name.

Spjutnes liegt auf Barentsøya, an der Westküste der Insel und unterhalb des Duckwitzbreen. Historisch ist Spjutnes, ähnlich wie die Binnebukta, eher sagen wir mal…zu vernachlässigen. Da könnte ich als historische Expertin auf unserer Umrundung jetzt natürlich beleidigt sein. Das wäre aber ganz schön dämlich von mir, denn auf Spjutnes gibt es jede Menge anderes zu entdecken und vor allem das, was mir selbst am meisten am Herzen liegt: Tiere!

Walrosse auf Barentsøya

Gut, ich gebe zu, Walrosse hatten wir schon des Öfteren: Poolepynten, Smeerenburg, Moffen und Torellneset, alles echte Walross-Hotspots. Und trotzdem, auch beim zehnten, zwanzigsten oder wahrscheinlich auch beim hundertsten Mal bin ich fasziniert von diesen großen, behäbigen Kolossen. Und jede Beobachtung ist anders. Das nicht so freundliche Kopfstützenmanöver habe ich zum Beispiel vorher noch nie gesehen. Ob sich der Speck des Nachbarn freut, wenn man seien Hauer da hineinbohrt?

Im Vergleich zu den anderen Orten haben wir hier eine recht kleine Kolonie, die auch gut von einem patrouillierenden Walross vom Wasser aus bewacht wird. Dementsprechend verhalten wir uns wie immer vorsichtig und leise. Gar nicht so einfach auf dem Kiesstrand. Um den zu erreichen, mussten wir von der Landestelle einen Hügel erklimmen.

Rechts geht es herunter zu den Walrossen, aber nach links eröffnet sich ein großer, bewachsener Talkessel. Und in dem wartet nun etwas, das ich bisher immer nur von sehr, sehr weit entfernt beobachten konnte: Das Svalbard-Rentier!

Das Svalbard-Rentier

Das Svalbard-Rentier ist ein echter Spezialist für extremes Klima und sieht dabei aus wie die knuddelige „Kurzbein-Version“ seiner großen Verwandten aus Skandinavien. Mit seinen stämmigen Beinen, dem kompakten Körper und der runden Schnauze erinnert es fast mehr an ein überdimensioniertes Meerschweinchen im Winterpelz als an ein majestätisches Rentier. Aber genau diese gedrungene Statur ist der Trick, der es den Tieren erlaubt, die eisigen Winde und Temperaturen von Spitzbergen zu überstehen: Weniger Oberfläche, weniger Wärmeverlust.

Im Sommer ernährt sich das Rentier von den Pflanzen der Tundra, von Gräsern, Moosen und Kräutern, um sich Fettreserven für den langen, kargen Winter anzulegen. Dabei bewegt es sich langsam und ausdauernd, da Nahrung knapp und die Energiebilanz entscheidend ist. Im Winter gräbt es mit den Hufen durch den Schnee, um an Flechten zu gelangen. Im Gegensatz zu seinem auf dem Festland lebenden Verwandten zieht das Svalbard-Rentier nicht zwischen Sommer- und Winterweidegründen umher.

Das Svalbard-Rentier lebt auch nicht in großen Herden. Meist bewegt es sich allein, in Paaren oder in kleinen Gruppen durch die offene Landschaft. Diese Lebensweise spiegelt die begrenzte Verfügbarkeit von Nahrung wider und macht das Rentier zu einem eher zurückgezogenen Bewohner der Arktis. Umso glücklicher bin, ich, dass wir hier eine vergleichsweise große Gruppe an Tieren antreffen.

Als ich den Kamm überquere, öffnet sich die Landschaft vor mir und gibt den Blick frei auf die Rentiere. Sie bewegen sich gemächlich und wirken vollkommen gelassen. Sogar als unser Expeditionsleiter sich zwischen den Tieren bewegt, bleiben sie ganz ruhig. Menschlicher Kontakt ist für diese Tiere eine Seltenheit und daher haben sie noch nicht gelernt, wie gefährlich wir für sie sind. Doch auch, wenn der Leiter scherzhaft überlegt, welches es zum Abendessen geben soll, heute sind die Rentiere sicher vor uns und haben nichts zu befürchten.

Tundra voller Leben

Unter meinen Füßen federt der dicht bewachsene Boden, als ich mich langsam nähere. Das ist ein Zeichen, dass es der Tundra hier noch gut geht. Das Gletschereis muss sich hier schon vor langer Zeit zurückgezogen haben, denn die Bodenbildung ist weit fortgeschritten. Sogar einige Pilze in Golfballoptik entdecke ich zwischen den kleinen Pflanzen. Die abgeworfene Geweihstange daneben sieht selbst aus wie ein Rentier. In den steinigen Absätzen aus Diorit lässt sich außerdem das Nest einer Schneeammer entdecken, die flink und fast unbemerkt zwischen den Felsen huscht.

Das drohende Szenario

Hinter diesem kleinen ökologischen Paradies öffnet sich in der Ferne allerdings ein ganz anderes Bild: Ödland. Es handelt sich leider um das Zukunftsszenario für große Teile von Svalbard. Weit erstreckt sich die trostlose Landschaft, gezeichnet von ablaufendem Wasser, karg und nur spärlich bewachsen.

Hier ist der Permafrost bereits vollständig geschmolzen. Ohne das Eis, das dem Boden Stabilität verleiht und zugleich als Wasserspeicher für die Vegetation dient, setzt ein Verwüstungsprozess ein. Die wenigen Niederschläge, die in dieser Region fallen, reichen allein nicht aus, um Pflanzen zuverlässig zu versorgen. Was zurückbleibt, ist eine verletzliche Landschaft, die ihre Fruchtbarkeit Stück für Stück verliert und irgendwann so aussieht.

So rau und wild die Arktis wirken kann, am Ende ist sie eine der verletzlichsten Regionen unserer Erde. Und sie ist das erste Opfer der Veränderungen, die eingesetzt haben. Wie immer ist mir die Ambivalenz meines Tuns, des Reisens hierher, bewusst, als ich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem schmalen Grat stehe und meinen Blick in die Zukunft schweifen lasse. Die Verzweiflung, die immer dann in mir hochsteigt, wenn ich es zulasse, flutet in meinen Kopf und in mein Herz. Vor mir der friedliche, arktische Garten Eden, hinter mir eine traurige Vision.

Es ist natürlich auch meine Schuld, dass das hier passiert. Und obwohl ich versuche, ein Leben zu führen, das positive Spuren hinterlässt, gelingt mir das nicht immer. Auch ich konsumiere viel zu viel, sorge für Unmengen an CO2 in der Atmosphäre und habe mehr im Leben, als ich brauche. Aber. Ja, aber.

Ein Aber, auf das ich vielleicht kein Anrecht habe, das ich mir einfach genommen habe. Aber… ich liebe es so sehr, hier oben zu sein. Ich liebe es so sehr zu fotografieren, zu schreiben, Vorträge zu halten und all das Erlebte zu teilen, um andere Menschen zu begeistern. Und wer weiß, vielleicht leiste ich ja so auch einen kleinen Beitrag. So bleibt zumindest die Erinnerung an mein arktisches Paradies.


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