Spitzbergen-Umrundung: Die mysteriösen Geoglyphen auf der Chermsideøya

Kennt ihr das, wenn ihr euch fühlt, wie im Film? Also, als wärt ihr der Hauptcharakter und einem spannenden Geheimnis auf der Spur? Ihr lasst eure Kontakte in alle Welt spielen, versucht, alte Rätsel zu lösen und längst vergangenen Ereignissen auf die Spur zu kommen? Nein? Nun, ich gebe zu, Alltag ist das bei mir auch nicht. Aber manchmal passiert es eben doch. Ich habe eben den besten Job der Welt! Und damit willkommen zum Rätsel um die Geoglyphen auf Chermsideøya!

Die Insel Chermsideøya liegt nordwestlich von Nordaustland, und ist etwa etwa 14 bis 20 km² groß. Ihr Panorama wird geprägt von den Bergen Knoll und Tott mit dem Chermsidedalen dazwischen, während der östliche Kap-Felsen mit 305 m den höchsten Punkt darstellt. Der Name der Berge stammt aus der norwegischen Übersetzung der Katzenjammer Kids-Comics, einem einer der ältesten Comicstrips der Welt. Unsere Landestelle liegt ganz im Süden der Insel entlang eines Dykes, der durch seine Erosionshärte eine Sattelstruktur im Fjord bildet. Diese Struktur ist die Grundlage für das Wachstum von Kelp-Wäldern, die ein wichtiges Element des lokalen Nahrungsnetzes darstellen.

Benannt nach Herbert Chermside

Der Name der Insel geht auf Herbert Chermside zurück. Der war ein britischer Offizier und Diplomat, der 1873 an der dritten Arktisexpedition des britischen Entdeckers Benjamin Leigh Smith teilnahm. Als junger Leutnant der Royal Engineers begleitete Chermside die Expedition als Logbuchführer und Fotograf. Die Reise hatte das Ziel, die Nordostküste von Spitzbergen zu umrunden und das Kong Karls Land zu kartieren.

Herbert Chermside

Dieses Ziel konnte nicht erreicht wurde, aber immerhin war es der Expedition stattdessen möglich die schwedische Polarexpedition unter Adolf Erik Nordenskiöld mit Proviant versorgen, die in Mosselbukta festsaß. Deren Schiff war festgefroren und die Besatzung drohte zu verhungern. Chermside dokumentierte die Reise mit Fotografien, die lange Zeit als verloren galten. Erst kürzlich wurden diese Aufnahmen im Grenna Museum in Schweden wiederentdeckt und dienen heute als wertvolle Vergleichsdaten für Klimaforschungen in der Region.

So jetzt hab ich wahrscheinlich schon alle Leser:innen vergrault oder in den Schlaf gelangweilt und ganz ehrlich: Kann ich verstehen. Wäre das alles, was es über die Insel zu sagen gäbe, wäre sie nichts weiter als ein felsiges Eiland irgendwo am Rand der Welt, das mit ein paar Namen in Verbindung gebracht werden kann. Aber jetzt wird es richtig spannend, versprochen. Wir begeben uns nämlich auf die Fährte der Geoglyphen .

Was sind Geoglyphen?

Geoglyphen, was ist denn das? Geoglyphen sind große, oft in die Erde oder in die Landschaft eingearbeitete Figuren, Muster oder Symbole, die meist nur aus der Luft oder von weitem richtig zu erkennen sind. Sie entstehen typischerweise durch das Entfernen von Oberbodenschichten (z. B. Steine, Erde) oder durch das Anhäufen von Materialien, sodass ein kontrastierendes Bild entsteht. Bekannte Geoglyphen sind zum Beispiel die Nazca-Linien in Peru oder das Uffington White Horse in England.

Nazca-Linien in Peru
Uffington White Horse in England

Und auch auf der Chermsideøya gibt es Geoglyphen. Diese sind allerdings deutlich kleiner und es handelt sich auch nicht um Tiermotive oder Symbole, sondern um mit Steinen gelegte Worte. Man kann es sich ein bisschen wie die Klotür in einer Bar vorstellen. Menschen, die hier vorbeikamen, haben sich mit Namen und Symbolen verewigt. Und nun stellen wir uns die spannende Frage: Wer war denn wann da und hat was geschrieben?

Heute sind noch vier “Eintragungen” sichtbar, einige davon gut erkennbar, andere kaum noch zu entziffern. Wir wollen es trotzdem versuchen.

Die russische Besatzung der Krassin

USSR
Красин
красный медведь
1928

Bei dieser Geoglyphe, die vergleichsweise gut lesbar ist, handelt es sich um eine Hinterlassenschaft der Männer, die 1928 hier unterwegs waren, um General Nobile und die Verunglückten des Italia-Fluges zu retten. Wer erinnert sich noch an meinen Artikel über Ny-Ålesund? Richtig, da haben wir den Mann, der 1928 mit seinem Luftschiff zum Pol flog und auf dem Rückweg leider abstürzte, schon kennengelernt. Er und seine Männer saßen also auf dem Eis fest und warteten auf Rettung.

Drei Männer – Zappi, Malmgren und Mariano – machten sich zu Fuß auf, um Hilfe zu holen. Malmgren starb, die anderen beiden überlebten psychisch schwer gezeichnet und wurden später gerettet.

Inzwischen gelang es den auf dem Eis gestrandeten Überlebenden, Kontakt per Funk herzustellen. Hilfsexpeditionen scheiterten, konnten aber Vorräte abwerfen. Rund einen Monat lebten die Männer auf dem Eis, bis ein schwedischer Pilot, Einar Lundborg, schließlich zumindest Nobile rettete. Zunächst weigerte dieser sich laut eigener Angaben, ohne seine Kameraden zu gehen, ließ sich jedoch wegen seiner Verletzungen überreden – eine Entscheidung, die ihm in Italien viel Kritik einbrachte. Nun ja, der Kapitän sollte ja eigentlich auch zuletzt das sinkende Schiff verlassen, nicht wahr? (Seitenblick auf die Costa Concordia)

Nobile nach seiner Rettung

Bei einem weiteren Rettungsversuch stürzte derselbe Pilot ab, überlebte aber und wurde von einem anderen Flugzeug gerettet. Schließlich erreichte der sowjetische Eisbrecher Krassin am 12. Juli, 49 Tage nach dem Absturz, das Lager. Von den 16 Besatzungsmitgliedern überlebten acht. An Bord des Schiffes befand sich eine dreimotorige Junkers K 30 (Militärversion der G 24). Pilot Boris Tschuchnowski hatte auf seinen Flügen mit der K 30 Krassnyj Medwed (Roter Bär) am 10. Juli die Malmgren-Gruppe entdeckt und die Krassin herbeigerufen.

Die Junkers K 30 mit dem Namen “Roter Bär”

Damit ist klar, worum es sich bei unser ersten Geoglyphe handelt. Zuerst das Land, dann das Schiff, dann der Name des Flugzeugs und schließlich die Jahreszahl.

Die rätselhaften Geoglyphen

BLASEL
LARS KYRRE
1937

So lese ich die Geoglyphen zumindest, aber keiner der Namen sagt mir etwas und ich konnte weder im Internet noch in meinen Büchern und Unterlagen etwas dazu finden. Auch meine Kolleg:innen sind ratlos. Sollte irgendjemand das hier lesen, der etwas darüber weiß oder dem etwas dazu einfällt, wäre ich unendlich dankbar.

Das einzige, was ich finden konnte, ist ein Bericht über die Ergebnisse der Deutschen Spitzbergen-Expedition 1937 von Dr. H. Rieche. Hier passt die Jahreszahl, es wird aber keiner der Namen erwähnt. Auch in dieser veröffentlichten Abschrift des Tagebuchs des Expeditionsleiters kann ich nichts zur Chermsideøya finden.

Das Hakenkreuz

Hakenkreuz
1939

Die dritte Geoglyphe sorgt für ein innerliches Zusammenzucken, wenn man sie das erste Mal sieht. Es ist ein Hakenkreuz. Wer genau es gelegt hat, ist unklar. Es wird vermutet, dass entweder eine Reise der nationalsozialistischen Organisation Kraft durch Freude (KdF) Ende der 1930er Jahre oder ein U-Boot-Einsatz 1944, bei dem die Mannschaft der Haudegen-Station in den Rijpfjord gebracht wurde, dafür verantwortlich sein könnte. Zwar passierte das U-Boot die Gegend, doch berichtet Stationsleiter Wilhelm Dege in seinem ansonsten sehr detaillierten Bericht für diesen Zeitraum nicht von einer Landung auf der Chermsideøya. Auch ein KdF-Unternehmen erscheint in dieser abgelegenen Region eher unwahrscheinlich. Die Jahreszahl1939 spricht allerdings gegen die U-Boot-Theorie.

Andererseits ist das Hakenkreuz im Lauf der Jahre wohl mehrfach zerstört worden. Verständlich, finde ich. Aber auch der Grund, warum es wieder hingelegt wurde, ist nachvollziehbar. Denn es gehört zur Geschichte Spitzbergens und indem man es vernichtet kann man die Gräuel der Nazis nicht auslöschen. Ich empfinde es als durchaus richtig, dass es dort liegt und uns an diesen Teil unserer Historie erinnert, den viele heutzutage nur allzu gern vergessen möchten.

Vielleicht hat die Person, die das Kreuz wieder hingelegt hat, auch die Jahreszahl ergänzt und stellvertretend einfach das Jahr genommen, in dem der Zweite Weltkrieg begann? Wer weiß.

Die schwedisch-russiche Arc-Meridian-Expedition

RA…(?)
….
Jäderin
1898

Die Schwedisch-Russische Arc-Meridian-Expedition (1899–1902) war eine internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit, deren Ziel die präzise Vermessung eines Meridianbogens war, um die Abplattung der Erde an den Polen zu bestimmen. Die russischen Wissenschaftler übernahmen die südlichen, die schwedischen die nördlichen Messungen, die mithilfe von Triangulationspunkten auf Berggipfeln durchgeführt wurden. Die Expedition dauerte mehrere Sommer und eine Wintersaison, da schwierige Eisbedingungen Verzögerungen verursachten. Neben geodätischen Messungen wurden auch astronomische Beobachtungen, darunter die ersten Fotografien des Polarlichts, durchgeführt. Die Expedition lieferte wichtige Daten zur Erdgestalt und gilt als bedeutendes Beispiel internationaler wissenschaftlicher Kooperation im späten 19. Jahrhundert.

Edvard Jäderin

Obwohl der Hauptteil der Expedition erst 1899 begann, begab sich schon im Vorjahr eine Gruppe schwedischer Forscher unter Edvard Jäderin, dem Leiter der Expedition auf die Chermsideøya. Von dieser Gruppe stammt die vierte Geoglyphe.

Leider kann ich nicht mehr alles erkennen und die Bedeutung der ersten beiden Zeilen ist unklar. Möglicherweise ist das erste Wort RAN und eine Abkürzung für die russische Akademie der Wissenschaften, die an dem Forschungsprojekt beteiligt war. Handelt es sich bei der zweiten Zeile vielleicht um den Schiffsnamen? Keine Ahnung, denn bisher konnte ich nicht herausfinden, mit welchem Schiff die Herren da oben unterwegs waren.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Rolf Stange, das wandelnde Spitzbergen-Wikipedia

Der ein oder die andere mag sich fragen, woher ich all diese Dinge weiß. Klar, Wikipedia ist immer eine gute erste Anlaufstelle, aber zu Spitzbergen findet sich dort selten alles an Details, was ich mir so wünsche. Daher treibe ich mich oft auf der absolut empfehlenswerten Seite spitzbergen.de von Rolf Stange herum, die für jeden Guide, der auf Spitzbergen tätig ist, sozusagen die Bibel ist. Dieser Mann hat einfach so unglaublich viel Wissen zusammengetragen! Natürlich stammt auch der Großteil meines Wissens zu dieser Landestelle aus seinem Chermsideøya-Artikel und er hat mir netterweise gestattet, seine Luftaufnahme für meine Recherchen zu verwenden und hier zu veröffentlichen.

AECO – Association of Arctic Expedition Cruise Operators

Auch auf den Seiten der AECO wird man immer wieder fündig, aber manchmal reicht das alles nicht. Ich war 2024 das erste Mal auf der Chermsideøya unterwegs und habe schon damals versucht, alles über die Geoglyphen herauszufinden, was an Informationen verfügbar war. Das war aber nicht allzu viel und so habe ich mich für diesen Artikel wieder hingesetzt und versucht mehr herauszufinden.

Connections rund um die Welt

Ich schrieb also all meine Bekannten, Expeditionsleiter und Kolleg:innen bei Hapag Lloyd an, ob irgendwer weitere Luftbildaufnahmen von dem Strand hat oder mehr über die Geoglyphen auf Chermsideøya weiß. Leider hatte niemand so etwas, also musste ich mich mit dem begnügen, was da war. Das waren meine Aufnahmen, die aufgrund der zu flachen Perspektive aber kaum etwas erkennen ließen. Und eben das Luftbild auf Rolf Stanges Website. Dieses bearbeitete ich und druckte es aus, um dann die Geoglyphen nachzuzeichnen, so gut es ging.

Als erstes habe ich mir die russische Inschrift von 1928 vorgenommen. Hier war klar, wer sie wann gelegt hat, nur zur dritten Zeile konnte ich keine Infos finden. Also habe ich meine Arbeitskolleg:innen bei einem meiner Copywriter-Jobs gefragt, denn wir sind ein sehr internationales Team. Tatsächlich konnte mir eine Kollegin helfen und entziffern, was dort zu lesen war. Sie sagte mir, dort stehe “Roter Bär”. In den AECO-Informationen zu der Landestelle steht, das es sich bei beiden Namen um Schiffe gehandelt habe, die zur Rettungsmission aufgebrochen seien. Daraufhin habe ich nochmal den Bericht Nobiles über die Ereignisse quergelesen, konnte aber weder zu einem zweiten Schiff, noch zum Stichwort “Roter Bär” dort etwas finden.

Das Russian Maritime Register of Shipping und der Junkers-Blog

Also fing ich an, nach einem Schiff mit diesem Namen zu suchen, durchforstete Online-Archive und -Enzyklopädien, fragte in Foren und auf Liebhaberseiten. Außerdem habe ich mich an das Russian Maritime Register of Shipping gewandt, in der Hoffnung, dass die mir mehr dazu sagen könnten. Denn deren Register erfasst Schiffe seit 1913. Während ich auf eine Antwort hoffte, die aber für recht unwahrscheinlich hielt, habe ich meine eigenen Recherchen intensiviert. Und siehe da, kurz darauf wurde ich fündig. Und zwar auf dem Blog der Junkers-Motorenwerke. Hier gibt es einen Eintrag über die Rettungsmission und darin die entscheidenden Sätze:

Am 7. Juli traf der russische Eisbrecher „Krassin“ in der Nähe der Absturzstelle ein. An Bord hatte er eine dreimotorige Junkers K 30 (Militärversion der G 24). Pilot Boris Tschuchnowski entdeckte auf seinen Flügen mit der K 30 „Krassnyj Medwed“ (Roter Bär) am 10. Juli die Malmgren-Gruppe und rief den Dampfer „Krassin“ herbei[…]

Etwa zeitgleich erhielt ich die sehr freundliche Antwort vom Register, über die ich mich wahnsinnig gefreut habe und die meine gefundene Information bestätigte. Maria, mit der ich seitdem in Kontakt stehe, ist nicht nur total nett, sondern hat mir schon ganz viele spannende Infos über russische Schiffe in Spitzbergengeschickt und meine Such zu ihrer gemacht.

Ich bin so dankbar, dass es Menschen wie sie gibt, die bereit sind, mich bei meiner Recherche zu unterstützen. Ich kann euch gar nicht sagen, wie aufregend ich das finde und wie viel Spaß mir das macht, ich fühle mich wie eine Mischung aus Indiana Jones, Sherlock Holmes und dem “Verrückter Typ erklärt was”-Meme.

Momentan arbeite ich noch daran, mehr über die anderen Geoglyphen herauszufinden und bin weiterhin mit allen möglichen Leuten in Kontakt. Sollte sich etwas ergeben, werde ich diesen Artikel natürlich updaten. Und falls irgendjemanden beim Lesen die Erleuchtung gekommen ist, immer her damit!

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