Wanderung-Saint-Sidoine-Provence

Seelenwandern – Saint Sidoine in der Provence

Meine erste Wanderung zur Chapelle Saint Sidoine in der Provence war die schönste und die schrecklichste, die ich bis dahin unternommen hatte. Ich will euch davon erzählen.

Diesen Sommer war ich mit meiner Tante und meinem Onkel in Südfrankreich. Sie hatten mich spontan mitgenommen, weil es mir zu dem Zeitpunkt sehr schlecht ging, und sie hofften, mich auf andere Gedanken bringen zu können. Ich war wahnsinnig unglücklich, aber diese Wanderung hat mir geholfen. Sie hat mir gezeigt, dass es noch Dinge gibt, die es wert sind, gesehen zu werden.

Wir fuhren über den Mont Ventoux in ein benachbartes Tal, in das Dorf Beaumont-du-Ventoux. Dort begann unsere Route. Sie führte über schmale Waldpfade steil bergan und bald hörte ich mein Herz hämmern. Aber Hass und Bitterkeit waren meine Weggefährten und trieben mich den Berg hoch. Keuchend dachte ich, dass mein Herz jetzt wenigstens einen Grund hatte, zu klopfen, als wollte es zerspringen.

Die erste Etappe wurde mit einer Rast auf einem Plateau belohnt. Nachdem wir uns kurz erholt hatten, ging es weiter; über eine Wiese, übersät von bunten Wildblumen. Alles war friedlich, fast unwirklich. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass es doch nirgendwo mehr Frieden für mich geben könnte, war er einfach da. Wir waren ganz allein, kein Mensch weit und breit.

Der Weg führte weiter nach oben, etwa 4 km. Dann hatten wir die Kuppe des Bergkamms erreicht und mit ihr die winzige Steinkapelle Saint Sidoine. Ein schöneres Fleckchen kann man sich kaum vorstellen. Mir jedenfalls fiel das Atmen auf einmal viel leichter, dort oben in der Sonne. Zum ersten Mal seit Tagen ließ das Gefühl nach, dass eine Hand sich um mein Herz gelegt hatte und immer fester zudrückte. Dass ein Gewicht auf meinem Brustkorb lastete und mich immer weiter lähmte. Wir aßen und tranken und genossen die Aussicht auf die uns umgebenden Berge und die unter uns liegenden Täler. Und die Ruhe.

Auch der Abstieg war sehr steil und unter meinen Füßen lösten sich immer wieder Steine, die dann nach unten polterten. Die kurzen Schrecksekunden gaben mir das Gefühl, wenigstens ein bisschen lebendig zu sein. Immer wieder machte der Pfad eine enge Kurve, das Gestrüpp am Wegesrand lichtete sich und machte den Blick auf das immer näher kommende Tal frei. Schließlich erreichten wir Les Alazards. Und dort traf ich eine Katze. Katzen sind Balsam für die Seele. Ich weiß, dass das nach Pseudo-Esoterik klingt, aber für mich ist das so. Eine Katze zu streicheln und ihr Schnurren zu hören, nimmt mir immer etwas von meiner Last, egal, was das gerade sein mag.

Das Dorf war umgeben von Kirschbäumen. Und hier wurde mir endlich klar, woran ich unterbewusst schon die ganze Zeit hatte denken müssen.

Kennt ihr die Brüder Löwenherz? Die Geschichte von den Geschwistern Jonathan und dem kranken Krümel, der bald sterben muss. Doch Jonathan versichert ihm, dass nach all dem Leid etwas besseres kommt. Man liegt nicht tot in der Erde, nein. Wenn man stirbt, kommt man nach Nangijala, ins Kirschblütental. Ins Land der Abenteuer und Sagen. Als Kind hat mich diese Geschichte immer fasziniert. An den katholischen Himmel meiner Großmutter konnte ich nicht glauben, aber nach Nangijala zu kommen… Auch wenn ich mir Nangijala immer wilder, nordischer vorgestellt hatte ging mir diese Geschichte nun durch den Kopf, während mir süßer Kirschsaft über die Finger lief. Und wie früher tröstete sie mich.

Wir passierten den Friedhof Sainte Marguerite und machten einen Umweg über Les Valettes und dann über die staubige Straße zurück nach Beaumont. Zwar überkamen mich immer wieder Bitterkeit, Enttäuschung und Sehnsucht. Dennoch hatte ich gemerkt, dass das Leben trotz allem immer noch schön sein kann.

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