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Farmstay in Finnland: Der Tag, an dem die Arktis mich das Fürchten lehrte

Es ist ein kalter, kalter Tag. Morgens zeigt das Thermometer -40° Grad an, als ich aus der Hütte trete und mich zum großen Hundezwinger begebe. Die Luft schockfrostet meine Lungen und sofort werden die Augen trocken. Auf dem Thunfisch-Wasser im Eimer in meiner behandschuhten Hand bildet sich eine dünne Eisschicht, die ich immer wieder mit der Plastikkelle durchstoßen muss, um Wasser in die Näpfe der Hunde zu füllen.

Ich befinde mich im Norden Finnlands auf einer einsamen Huskyfarm mitten im Nirgendwo. Hier verbringe ich einen Winter, um Schlittenhunde zu trainieren. Jeden Tag kümmere ich mich um die knapp 60 sibirischen Huskys, füttere sie, mache ihre Gehege sauber, halte ihre Geschirre in Stand. Und natürlich fahre ich mit ihnen und den Schlitten raus in die weißen Wälder der Arktis.

Heute ist ein Tag, auf den ich mich sehr gefreut habe, denn heute wollen wir eine besonders lange Tour laufen. Normalerweise trainieren wir immer nur auf kurzen Runden, zwischen sieben und elf Kilometern, doch für diesen Tag sind über 40 Kilometer geplant. Mit vier Teams brechen wir auf in die Kälte.

Zu Anfang läuft alles wie am Schnürchen: Meine Hunde ziehen gut, der Trail ist fest und ich bin glücklich.

Doch dann zeigt der Norden seine Zähne. Wir fahren in ein schattiges Tal und ich spüre, wie die Temperatur weiter fällt. Dann kommt Wind auf.

Wir haben erst zehn Kilometer geschafft, als ich merke, dass etwas mit meinen Füßen nicht stimmt. Vielleicht waren drei Paar Socken doch zu wenig. Vielleicht auch zu viel. Vielleicht habe ich die Stiefel zu eng geschnürt. Oder es ist schlicht und ergreifend zu kalt für eine junge Frau aus dem warmen Deutschland. Denn langsam, ganz langsam frieren meine Zehen ein.

Es beginnt mit den Zehenspitzen, dann die Fußballen und zum Schluss der ganze Fuß. Zuerst ist es einfach nur Kälte, dann kommen die Stiche. Irgendwann fühlen sich meine Füße an wie in einem Schraubstock, und dann… gar nichts mehr. Meine Füße sind taub. Ab jetzt ist es schwierig, sich auf den schmalen Schlittenkufen zu halten und zu pedalen, um die Hunde zu unterstützen. Ich muss auf meine Füße schauen, sonst verheddere ich mich in der Bremse und werde vom Schlitten gerissen.

Als das Gleiche in den Fingern anfängt beginne ich mir Sorgen zu machen.

Im Vorfeld meines Farmstays habe ich von vielen Freunden und Freundinnen Sätze gehört wie: “Wow, echt mutig von dir, ganz alleine nach da oben zu gehen!” oder “Ich würde mich das nicht trauen!”. Dabei kam ich mir gar nicht besonders mutig vor. Lappland ist schließlich nicht der Mond und ich habe mir trotz des Abenteuers, zu völlig fremden Leuten zu reisen um bei ihnen zu leben und für sie zu arbeiten, nie Sorgen um meine Sicherheit gemacht.

Aber jetzt zeigt mir die Arktis, warum sie seit hunderten von Jahren das Grab der Unvorsichtigen bedeutet. Eine falsche Entscheidung, eine kleine Dummheit, die zu Hause vielleicht Unannehmlichkeiten verursachen würde, kann hier oben tödliche Konsequenzen haben.

Ich muss an Jack Londons Geschichte “Ein Feuer machen” denken. Sie handelt von einem Mann, der sein letztes Streichholz verschwendet und dem nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst beim Erfrieren zuzuschauen. Captain Scotts Südpolexpedition kommt mir in den Sinn. Seine Männer starben einer nach dem anderen im Eis der Antarktis.

Ich versuche mich zu bewegen, die Muskeln anzuspannen, Kniebeugen auf den Schlittenkufen zu machen, springe mit meinen tauben Füßen vom Schlitten, klammere mich an den Griffen fest und renne mit, um wieder Blut durch meine Adern zu pumpen. Die Hunde legen sich ins Zeug und ich versinke mit jedem Schritt im Schnee.

Ich muss vorsichtig sein, denn wenn ich jetzt stolpere und den Schlitten verliere, habe ich ein Problem. Ein Musher darf sein Team nicht verlieren, schon um der Sicherheit der Hunde willen. Ich fahre am Ende unserer Gespannfolge und es könnte durchaus dauern, bis meinen Vorderleuten auffällt, dass das letzte Team ohne Musher läuft.

Ein Musher ist für sein Team verantwortlich und würde es nie willentlich aufgeben

Aber mein Körper hat schon zu viel Wärme verloren, als dass ich ihn auf diese Art aufheizen könnte. Also versuche ich die Zähne zusammenzubeißen und es zu ignorieren. Aber irgendwann kann ich an nichts anderes mehr denken als an die Kälte und an die 20 Kilometer die zwischen mir und der Wärme liegen. Nicht an die schöne Landschaft, die hart arbeitenden Tiere, meine Liebe zu diesem Land. Nur an die Kälte in meinen Knochen.

Mein Verstand sagt mir, dass ich nicht wirklich in Gefahr bin, dass mir das alles dramatischer vorkommt, als es ist. Aber diese vernünftige Stimme in meinem Kopf wird immer leiser, während Instinkte die Oberhand gewinnen. Mein Körper signalisiert mir, dass er bedroht wird und das macht mir Angst.

Es gibt einfach nichts, was ich machen kann und es hat keinen Sinn um Hilfe zu bitten, weil es keine gibt. Natürlich kann ich meiner Chefin signalisieren, dass es mir schlecht geht. Nur was soll dann passieren? Mein Team kann ich nicht im Stich lassen, abholen kommt mich hier auch niemand. Und selbst wenn, wäre das wahrscheinlich nicht schneller, als einfach mit den Hunden zurück zur Farm zu laufen.

Natürlich ist immer eine Person mehr dabei, als es Gespanne gibt, damit im Notfall jemand da ist, der sich kümmert. Diese Person sitzt vorne im Hauptschlitten. Ich könnte mit ihr tauschen, wärmer würde mir davon aber auch nicht. Und der Weg zurück nicht kürzer.

Irgendwann ist es dann aber sowieso an mir, diesen Platz einzunehmen. Ich will nicht, dass meine Chefin schlecht von mir denkt, denn niemand anderes scheint Probleme zu haben. Und trotzdem sieht man mir wohl an, wie mitgenommen ich bin, denn sie gibt mir Tee und Schokolade. Ab und zu springe ich raus und laufe hinter ihrem Schlitten her, um den müde werdenden Hunden die Arbeit zu erleichtern und wenigstens etwas aufzutauen.

Als endlich der zur Farm gehörige See auftaucht und dahinter die Hütten, fällt mir ein Eisberg vom Herzen. Meine Chefin wirft mir einen abschätzigen Blick zu und schickt mich in die Hütte. Ewig knie ich dort auf dem Boden, während sich auf den Holzdielen eine Pfütze um mich bildet, und versuche mit meinen tauben Fingern die vereisten Schnürbänder meiner Stiefel aufzunesteln.

Als ich endlich die Kleider von meinem kalten Körper geschält habe, schlüpfe ich unter meine Decke und schäme mich. Ich bin enttäuscht, dass ich den Lauf, auf den ich mich so gefreut hatte, kaum ertragen konnte. Und das, obwohl ich im Vergleich zu meinen Kollegen die beste Ausrüstung habe. In diesem Moment möchte ich einfach nur nach Hause.

Als ich eine halbe Stunde später einen Blick in meine Strümpfe riskiere, muss ich feststellen, dass meine Füße schneeweiß sind und an vielen Stellen blutige Risse aufgesprungen sind. Am Abend, als die Taubheit immer noch nicht gewichen ist, frage ich vorsichtig meine Chefin. Sie lacht und winkt ab. Das seien nur Erfrierungen ersten Grades, das gibt sich schon alles wieder.

Und sie behält recht. “Nur” drei Monate später, als ich längst wieder im warmen Köln bin, weicht die letzte Taubheit aus meinen großen Zehen.

Als ich mich traue zu fragen, wie kalt es denn war, antwortet sie:

Mit Windchill?

-58°.

6 Comments

  • Heike

    Spannend geschrieben :). Ehrlich gesagt hätte ich da auch Angst bekommen :o). Weiß nicht, ob es so selbstverständlich ist, dass die Taubhaut zurückgegangen ist. Habe eine Bekannte, die hat nach 20 Jahre noch Taubheitssouvenire von einer Huskytour in Lappland. Die Chefin scheint ja ziemlich raubeinig gewesen sein…..
    VIele Grüße, Heike

    • Rosa

      Danke, freut mich, dass du es spannend fandest 🙂 Ich bin auch sehr froh, dass ich keine dauerhaften Schäden davongetragen habe. Und ja, meine Chefin war jetzt eher an der Arbeitskraft, als an dem persönlichen Wohlbefinden ihrer Volunteers interessiert 😀
      Hab einen schönen Sonntag und liebe Grüße!

  • Isa Potter

    Wow, Wahnsinn! Dein Bericht war so spannend geschrieben, ich hab schon ein bisschen angefangen zu schwitzen. 😀
    Ich bin sehr froh, dass dir „nichts weiter“ passiert ist und deine Zehen inzwischen zum Glück wieder aufgetaut sind. Echt krass, dass du so durchgehalten hast!
    Ich werde mir jetzt auch gleich noch deine anderen Farmstay berichte durchlesen – finde das Thema so spannend! ❤

    • Rosa

      Hallo Isa und schön, dass du niche nur auf meinen Blog gefunden hast und dir meine Geschichten gefallen, sondern du dir sogar noch die Zeit nimmst, zu kommentieren! Gerade in diesen Zeiten fragt man sich, ob ein Reiseblog überhaupt sinnvoll ist, aber dann bekommt man so tolles Feedback und schwebt auf Wolken! Danke dir!

  • Carina

    Toll geschrieben Anuschka! Ich bin begeistert und freue mich, mir mal einen Vortrag von dir persönlich anzuhören. Wir sehen uns am 26.07.20, ich komm´ mit der Mona 🙂 Viele Grüße Carina

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